Wir sind mehr … stimmt doch, oder?

CW: Erwähnung von körperlicher und seelischer Gewalt

Diesen Spruch „Wir sind mehr“ hört und liest man immer wieder und vor allem im Fediverse wird er oft ausgiebig genutzt um sich gegenseitig zu versichern, dass der Kampf gegen rechts eben nicht so aussichtslos ist, wie er scheint. Hier gibt es meine Sichtweise darauf.

#politik #gesellschaft #EigeneGeschichte

Beginnen wir mit einer Geschichte. Es ist 1988 und wir schauen in eine kleine Ecke der Südwestpfalz. Meine Eltern hatten sich ein paar Jahre zuvor getrennt und meine Mutter hatte nun einen neuen Mann kennengelernt. Also stand ein Umzug an, der uns 10 Km weiter in durchschnittliches 2500 Seelen Dorf bringen sollte.

Ich, weiß und deutsch, mein Bruder, weiß und deutsch, meine Eltern weiß und deutsch, der Stiefvater weiß und deutsch und alle Familien schon seit „Jahrhunderten“ weiß und deutsch.

Warum ich das so sehr betone? Kurz nachdem wir im neuen Ort angekommen waren gab es Ärger mit den Nachbarn. Und plötzlich gab es da im Dorf eine Unterschriftensammlung. Wir sollten wieder wegziehen. Wir würden da nicht hingehören. Wir wären ja keine von hier und dass unsere „Herkunft“ nur mal eben um die Ecke lag interessierte nicht. Was aus dieser Unterschriftenaktion wurde, weiß ich nicht. Wir blieben jedenfalls dort wohnen.

Das wurde von vielen im Dorf mit Ausgrenzung bestraft. Ich durfte nicht mit anderen Kindern spielen und deren Kinder waren mir gegenüber ziemlich widerwärtig. Selbst die Erzieherinnen im Kindergarten beteiligten sich an der Ausgrenzung. Auch Vereine im Ort waren tabu für mich.

In der Grundschule wurde es auch nicht besser und sogar die Lehrkräfte beteiligten sich an Ausgrenzung und Demütigung. Dass ich zu hause von körperlicher und seelischer Gewalt betroffen war, machte die Situation auch nicht besser. Aber für meinen Stiefvater war es dadurch viel einfacher. Er konnte mich auf offener Straße verprügeln und niemand interessierte sich dafür. So muss man das mit „denen“ eben machen.

So blieb ich meist allein. War entweder zu hause, wo spätestens mit dem nach hause kommen meines Stiefvaters die Hölle losbrach oder spielte alleine auf Federn und im Wald. Das Mobbing durch die anderen Kinder ging soweit, dass ich beim Spielen verfolgt und ausgespäht wurde. Baute ich aus toten Ästen eine kleine Hütte im Wald, war absolut sicher, dass sie am nächsten Tag zerstört war, um nur ein Beispiel zu nennen.

Ich habe in meinem Leben sehr viele Ausgrenzungserfahrungen gemacht und das war alles nur ein Bruchteil dessen, was Menschen erleben, die aus einem anderen Land zu kommen. Meine erste Haushaltshilfe aus Kolumbien war irgendwann so fertig mit all dem, dass sie die Chance nutzte das Deutschland zu verlassen und in der Nähe ihres Sohnes in der Schweiz zu leben.

Und wenn man von der Herkunft weg geht und Dinge wie Behinderungen, chronische Krankheiten oder andere Merkmale zur Diskriminierung betrachtet, dann stellt man schnell fest, dass diese gefühlte Mehrheit schnell zusammen schmilzt.

Wenn es gegen Rassismus und Antisemitismus geht, dann finden sich noch recht gut Leute für eine Demo. Für queere Menschen wird es schon weniger. Aber wo sind die großen Demos gegen Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen? Wo empören sich die Leute darüber, dass Menschen im Rollstuhl aus Zügen geworfen werden oder ihre Fahrt garnicht antreten können weil Aufzüge kaputt sind? Wo sind die Demos, die eine bessere Versorgung mit Psychiater*innen und Psychotherpeut*innen fordern? Wo sind die Linken, die sich gegen die Rape Culture in ihren eignen Reihen wenden? Oder … Gott beware, gegen linken Antisemitismus.

Auch dass in der „Migrationsdebatte“ immer wieder das Argument kommt, dass wir die Arbeitskräfte aus anderen Ländern ja bräuchten. Was ist mit Kranken, Behinderten, Alten, Kindern? Dürfen die nicht in Würde Leben? Ohne die Gefahr zu verhungern oder ermordet zu werden? Wenn wir schon das grundsätzliche „Alle Menschen sind gleich viel Wert!“ durch „Die, die Arbeiten sind schon ganz ok!“ ersetzen, dann haben wir bereits verloren.

All das und noch viel mehr gehört zum Faschismus. Was „Intersektionalität“ bedeutet scheint bei den Meisten nicht im Mindesten angekommen zu sein. Entweder sind wir alle frei oder niemand ist es! Solange wir erlauben, dass auch nur eine einzige willkürlich gewählte Eigenschaft dazu führt, dass anderen Menschen Rechte und damit auch ihre Würde vorenthalten werden, solange wird es auch Diskriminierung geben.

Wir sind nicht mehr! Wir sind sogar sehr Wenige. Das muss uns klar sein und es sollte uns wütend machen! Es sollte dafür sorgen, dass wir genug Wut entwickeln um dagegen zu kämpfen. Dagegen aufzustehen. Grade in dieser schwierigen Zeit mit einer offen nach rechts gelehnten Regierung, MÜSSEN wir etwas tun. Tun wir es jetzt nicht, dann wird es bald zu spät sein.

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

– Martin Niemöller